Wie modern ist eine Kneipp-Kur?
"Die beste Bewegung, die Sie hier im Haus bekommen können, ist das Treppensteigen" rät uns Schwester Waldefried. Ja, die Nonne im weißen Nonnengewand und einer schwarzen Haube auf dem Kopf, unter der ein paar graue Haare über ihren fröhlich blitzenden Augen hervorlugen, heißt tatsächlich so. Es hat mich nach Bad Wörishofen verschlagen, Kneipp-City, der Wiege der Kneipp-Kur. Ich bin allerdings nicht zum "kneippen" sondern zum Yoga hier, doch Sebastian Kneipp kann ich mich hier trotzdem nirgendwo entziehen. Er ist omnipräsent. Und aus meiner Sicht so zeitgemäß wie vor 100 Jahren.
Zu Gast in einem alten Kloster: Das Kneippianum in Bad Wörishofen
Das Kneippianum war vormals, zu Kneipps Zeiten, ein Kloster. Er gründete es im Jahr 1896 und legte damit gleichzeitig den Grundstein für sein noch heute weltbekanntes und geschätztes Naturheilverfahren, die gute alte Kneipp Kur. Wer dabei allerdings an eklig kalte Wassergüsse denkt, irrt sich. Seit den Anfängen hat sich viel verändert, unter anderem und zur Beruhigung aller Kaltwasserscheuen die Wassertemperatur. "Damals gab es ganz einfach kein warmes Wasser", erklärt Schwester Waldefried, die übrigens selbst jeden Morgen und Abend kneippt. "Darum wurde kaltes Wasser verwendet. Heute ist das anders, heute bekommen Sie ihre Kräuterwickel zwar immer noch morgens um fünf Uhr, denn dann sind die Organe in Höchstform, doch ganz sicher sind sie nicht mehr eiskalt." Sie schmunzelt und schaut in die Runde. Wir lauschen ihr aufmerksam. Sie macht heute die Einführung und Hausführung für die neu angereisten Gäste. Im Kneippianum ist das noch so, jeder wird hier, wenn er möchte, an die Hand genommen, soll sich wohl und zu Hause fühlen von Anfang an.
Futter und Wasser, Raum der Stille und die Heilige Elisabeth von Ungarn
Mit der Orientierung sei es in dem weitläufigen Gebäude mit seinen immer noch an das ehemalige Kloster erinnernden dicken Mauern ganz einfach, sagt Schwester Waldefried. Für den Ostflügel sollten wir uns "Futter" merken, denn hier lägen schließlich Restaurant und Teeküche, und für den Westflügel "Wasser". Hier befinden sich die Anwendungsräume, das Spa, der Pool und auch der Fitness- und Gymnastikraum. Wenig später wandeln wir hinter Schwester Waldefried her die langen Korridore entlang, stapfen die zahlreichen Stufen des imposanten Treppenhauses hinauf und hinunter, vorbei an den in prächtig purpurnen Farben gezeichneten Kirchenfenstern, die die zarten Sonnenstrahlen von draußen leuchten lassen. Am Aufgang in den dritten Stock, in dem mein Zimmer liegt, erstrahlt jedes Mal, wenn ich die steilen Stufen hinauf oder hinab schreite, die Heilige Elisabeth von Ungarn in ihrem tiefroten Kleid. Sie und ich begegnen uns jeden Morgen und mehrmals am Tag, ihr Bild bleibt in meinem Kopf.
Im ersten Stock befindet sich der "Raum der Stille", den jeder zu jeder Zeit besuchen darf. Einmal in der Woche, immer mittwochs, finden hier Meditationen statt. Man sitzt gemeinsam im Kreis, vorne brennt eine Kerze und gemeinsam taucht man für eine gute Weile ab in die Stille.
Im Erdgeschoss, unweit der Rezeption und auf dem Weg zum Spa, liegt die Hauskapelle, die eher einer richtigen Kirche ähnelt. Ihre moderne Einrichtung kann nicht darüber hinweg täuschen, dass sie hier in diesem Haus seit mehr als 100 Jahren täglich genutzt wird. Drinnen ist es kühl und ruhig, wie in einer echten Kirche. Täglich findet eine Vesper statt, zu der jeder, der möchte, dazu kommen kann.
Die 5 Säulen der Kneipp-Kur
Wir treffen uns wieder im Café, in dem unsere Reise begann. Schwester Waldefried erklärt uns anhand der hier ausgestellten Bilder die fünf Säulen einer ganzheitlichen Kneipp-Kur im Kneippianum.
1. Wasser - Hydrotherapie
Bei Waschungen, Güssen, Wickeln, Bädern und Wassertreten kommt der Körper mit Wasser verschiedener Temperaturen in Berührung. Dadurch wird der Kreislauf angeregt, das Immunsystem gestärkt und Beschwerden wie Bluthochdruck oder Schmerzen lindert.
2. Kräuter - Phytotherapie
Keipp behandelte Patienten mit etwas 50 verschiedenen Heilkräutern. Bei einer Kneipp-Kur gehören selbstverständlich Kräuterwickel zur Anregung oder Beruhigung der Organe dazu, außerdem Kräutertees und frische Kräutern aus dem Kräutergarten für den guten Geschmack der leckeren Gerichte.
3. Bewegung
Kneipp war überzeugt davon, dass Bewegung den gesamten Bewegungsapparat in Form hält und den Körper leistungs- und widerstandsfähiger macht. Netter Nebeneffekt: Übergewicht, Auslöser für viele Krankheiten, hat keine Chance. Im Kneippianum wird im Rahmen einer Kur zum Beispiel Nordic-Walking, Gymnastik, Yoga, Aquajogging und natürlich Schwimmen ans Herz gelegt. Das Wasser im Pool mutet entsprechend erfrischend an, wer einfach nur herumplanschen möchte, wird hier nicht glücklich. Dafür gibt es ein paar Schritte weiter jedoch den in der Tat geräumigen Whirlpool.
4. Ernährung
Kneipp predigte eine sinnvolle und maßvolle Kost, die zugleich abwechslungsreich ausfallen sollte. Die Ernährung sollte aus vollwertiger Kost mit reichlich Ballaststoffen und komplexen Kohlenhydraten, also aus Vollkornprodukten, Gemüse, Salat und Obst, bestehen. Diese uralten Regeln scheinen im Licht der aktuellen Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft aktueller denn je.
Im Kneippianum durfte ich täglich zwischen drei Gerichten wählen, eines davon immer vegetarisch und eines basisch. Wer will, kann während einer Kur oder auch eines kürzeren Aufenthalts basenfasten. Morgens wird den Fastern ein köstlicher Dinkelbrei mit Äpfeln und Trockenobst serviert, dazu ein Glas Ingwerwasser und soviel Tee, wie man möchte. Mittags steht ein basisches Essen mit viel Gemüse und zum Beispiel Kartoffeln, Quinoa oder Hirse als Beilage auf dem Plan, einmal in der Woche gibt es Fisch. Abends dürfen Basenfaster einen opulenten Pott Suppe verdrücken, Geschmack und Konsistenz variieren täglich. Einmal in der Woche gibt es außerdem einen basischen Gemüseteller mit gedünstetem Gemüse. Insgesamt sind das 800 Kalorien pro Tag und ich kann beobachten, wie die Basenfaster um mich herum von Tag zu Tag gesünder aussehen.
Für sowieso schon schlanke Menschen empfiehlt sich das Basenfasten eher nicht, denn die Kilos schwinden schnell. Ich habe es zwei Tage gemacht und hatte dermaßen Hunger, dass ich schließlich auf eine Mischung aus basischem und dem normalen Essen umgestiegen bin.
Morgens lädt ein großes Frühstücksbuffet mit frischem Obst, Brot, Säften und selbst gemachtem Marmeladen zum Schlemmen ein und jeden Mittag und Abend gibt es ein Salatbuffet mit köstlichen Rohkostsalaten.
5. Lebensordnung oder: Balance von Körper, Geist und Seele
Für Sebastian Kneipp stand fest, dass die psychische Balance die Voraussetzung für ein zufriedenes und gesundes Leben ist. Die Harmonie von Körper, Geist und Seele wirkt sich erwiesenermaßen positiv auf die Körperfunktionen und die Widerstandskraft aus. Angebote wie Meditation, Aromamassage, Shiatsu, Sauna, Physiotherapie oder Gespräche mit den erfahreneren Therapeuten im Haus sollen helfen, sich so richtig wohl zu fühlen und die Sorgen loslassen zu können. Eine entspannte Atmosphäre, die das seelische Gleichgewicht durch nichts in Unruhe bringt, ist ein essentielles Kriterium bei einer Kneipp-Kur.
Wie modern ist eine Kneipp-Kur?
Meine Frage, ob sich die Kneipp-Kur an ein bestimmtes Krankheitsbild richte, verneint Schwester Waldefried. "Kneipp ist für alle gleichermaßen zu empfehlen", sagt sie. Mir scheint, dass es vornehmlich die Älteren sind, die sich hier zum "kneippen" einfinden. Sebastian Kneipp scheint aus der Mode gekommen zu sein, zumindest bei der jüngeren Generation. Schade, denn bei allgemeinen Suche nach Gesundheit und Wohlbefinden kann die Kneipp-Kur einen sehr bodenständigen und erwiesenermaßen positiven Beitrag leisten.
Ich war ganz sicher nicht zum letzten Mal in Bad Wörishofen und auch nicht im Kneippianum. Ein verlängertes Wochenende im Frühjahr steht auf meiner Liste, schließlich will ich den Kurpark in Blüte erleben. Und mich nach dem Schwimmerchen im kühlen Kneipp-Pool draußen von der Sonne wärmen lassen, während Schwester Waldefried sich nebenan um ihren Kräutergarten kümmert.
Was sie denn genau tue, wenn sie kneippt, will jemand wissen. "Jeden Morgen mache ich einen Armguss, um wach zu werden, und jeden Abend Wassertreten für einen guten Schlaf", antwortet sie mit feinem bayerischen Zungenschlag. Es scheint ihr gut zu bekommen. Die Treppen flitzt sie jedenfalls so flink hinauf und hinunter wie ein junges Mädchen.